Das schöpferische Lesen
“Wirkliche Aufmerksamkeit bedeutet bewusstes Einfühlen, bewusstes Sehen, bewusstes Wahrnehmen und ein gedankliches Vorstellen. Diese gedankliche und empfindende Aufmerksamkeit kann unendliche Tiefen und gewagte Höhen berühren. Wie ein Musikinstrument gestimmt und im gegenseitigen Klingen wahrgenommen wird, so kann auch das Wort durch eine konkrete, regsame Außenwahrnehmung richtig gehend gesehen und gefühlt werden.”
(Heinz Grill, Das Lesen und der Aufbau von Ätherkräften)
Ursprünglich steht Meditation in einem Zusammenhang mit dem Lesen von Schriften. Man meditierte über eine spirituelle Aussage. Man entwickelte eine Vorstellung von einer Aussage. Lesen ist so eine Kommunikation mit dem Autor.
” Lesen von guten Büchern ist wie eine Unterhaltung mit den besten Menschen vergangener Jahre”
René Descartes
Lesen aus der Sicht des Autores
Es gibt nur eine Vorstellung des Autores und es gibt viele Leser. Der Leser selbst kann nun aus dem Standpunkt von sich selbst, die Sätze und Begriffe interpretieren oder aus dem Standpunkt des Autores heraus lesen und denken. Ließt er aus dem eigenen Standpunkt, so wird er seine Vorstellungen über die Vorstellungen des Autores legen. Jeder Leser wird so den Text anders auslegen. Als Leser kann man jedoch auch den Standpunkt des Autores einnehmen und sich in den Autor und seine Sichtweise hineindenken.
Indem man die Worte, die man ließt, nocheinmal bewusst erschafft, fühlt man sich in den Autor und seine Gedanken lebendig hinein. Man lernt den Autor in seinem Denken kennen, denn man bildet aktiv den Gedankenprozess des Autors nach. Diese Art des Lesens ist kreativ, gestaltend, aktiv im Denken. Man ließt dann nicht um der Information willen, sondern man ließt um das was man ließt nocheinmal lebendig zu erzeugen. Es ist das ein schöpferischer Prozess.
Lesen und die Stärkung der Persönlichkeit
Meditation, lateinisch meditatio zu meditari bedeutet „nachdenken, nachsinnen, überlegen oder auch die “Mitte finden“ , altgriechisch steht μέδομαι medomai für „denken, sinnen“. Es gibt einen Bezug zum Stamm des lateinischen Adjektivs medius, -a, -um „mittlere[r, -s]“.
Wenn man nur der eigenen Unterhaltung wegen ließt oder auch weil man eine Information für sich haben will, begegnet man einem Text nicht frei. Wenn man wie Goehte schreibt, eine Erkenntnis entwickeln will, dann stellt man sich einem Text denkend gegenüber.
“Es ist ein großer Unterschied, ob ich lese zu Genuß und Belebung oder zu Erkenntnis und Belehrung.”
aus: Goethe, J. W., Briefe. An J. F. Rochlitz, 13. Juni 1819
Heinz Grill beschreibt das schöpferische Lesen als ein Lesen, indem man lernt, den Gedanken anzuschauen und außerhalb von seiner Subjektivität aufzubauen und aufrecht zu erhalten. Miit diesem schöpferischen Lesenprozess stellt Heinz Grill einen Zusammenhang mit der Entwicklung eines Zentrums im Menschen her.
“Je mehr ein Gedanke im Außen lebt, desto mehr kann er nach innen ein Zentrum im Menschen anlegen. Dieses Gesetz des konkreten, objektiven Gedankens ist im Leben sehr wichtig und sollte auch als eine Disziplin zur Erarbeitung gelangen.”
(Heinz Grill, Das Lesen und der Aufbau von Ätherkräften)
Das Lesen kann demnach zweierlei bedeuten: Das Lesen als Material für ein Wissen oder das Denken des Gelesenen. Und erst das Denken macht das Gelesene zum Eigentum des Menschen. Damit wird das Lesen zu einem schöpferischen Prozess erhoben, zu einer Kunst Gedanken zu erzeugen.
John Locke beschreibt das Lesen in zwei verschiedenen Zusammenhängen:
“Das Lesen versieht das Leben nur mit dem Material für das Wissen, erst das Denken macht das Gelesene zu unserem Eigentum. Es genügt nicht, daß wir uns mit einer großen Ladung von Sammelgütern anfüllen, wenn wir diese nicht durchdenken, werden sie uns keine Kraft und Nahrung geben.”
(John Locke (1632 – 1704), englischer Philosoph und Politiker)
Schöpferisches Lesen und Sprechen üben und lernen – die Rezititationskunst
Eine einfach und sehr gute Übung ist es, einen Gedanken nicht nur zu lesen, sondern auch offen und frei in den Raum zu sprechen oder ihn anderen Menschen frei vorzutragen. Indem man einen Gedanken wörtlich anderen Menschen zitiert, lernt man sehr gut, einen Gedanken objektiv in den Raum zu stellen. Wertvolle Aussagen oder Texte kann man nicht nur “auswendig” lernen und heruntersagen. Das Auswendiglernen selbst, wie man es vielleicht aus der Schule kennt, ist damit nicht gemeint.
Indem man einen Gedanken nocheinmal geistig neu und wörtlich erdenkt und erschafft, macht man ihn lebendig. Und wenn man einen Gedanken mit einer Vorstellung spricht, kann man die Gedanken eines anderen Menschen nicht nur kennen lernen sondern für andere Menschen wieder beleben, und lebendig und empfindbar machen. In der Schauspielkunst und im Theater ist diese Fähigkeit sehr wichtig.
“Lesen sollte deshalb zu der lebendigen Disziplin einer beschaulichen, aufmerksamen, meditativen und schließlich schöpferischen, Gedanken erzeugenden Kunst gelangen.”
(Heinz Grill, Das Lesen und der Aufbau von Ätherkräften)
Man lernt einen Text sehr viel einfacher auswendig, wenn man das Motiv hat, ihn anderen Menschen vorzutragen. Die Kunst besteht aber darin, den Gedanken selbst frei und unabhängig von einem selbst zu lesen und auch auszusprechen.
Bewusstes Lesen fördert die Urteilsbildung
Kann man einen Gedanken auswendig, so ist er immer verfügbar. Man kann ihn jederzeit denken. Man kann damit sein Gedankenleben schulen und mit wervollen Denkinhalten füllen lernen und führen lernen.
Man lernt Gedanken bewusst zu betrachten. Aussagen von Politikern oder von irgendeiner Person kann man dann bewusst betrachten, rekonstruieren und sich damit ein objektiveres Bild bilden. Die Kunst, nicht sogleich mit eigenen Bewertungen und Urteilen das Gelesene zu färben, sondern es frei zu lassen, egal ob es richtig oder falsch ist, fordern das Denken und den ganzen Menschen heraus. Das ist gerade heute sehr wichtig, da sehr viele Aussagen an einen herangetragen werden, man regelrecht überschwemmt wird mit Worten und Gedanken und sie deswegen oft weniger konzentriert betrachtet.
Man schult dabei nicht nur das Denken sondern auch die Urteilskraft, denn man lernt es, sich auf eine Aussage eines anderen Menschen wörtlich zu konzentrieren und diese längere Zeit zu betrachten. Damit aber lernt man eine Aussage erst tiefer kennen und kann sie in der Folge dann besser beurteilen.
“Es gibt dreierlei Arten Leser; eine, die ohne Urteile genießt, eine dritte, die ohne zu genießen urteilt, die mittlere, die genießend urteilt und urteilend genießt; diese reproduziert eigentlich ein Kunstwerk aufs neue. Die Mitglieder dieser Klasse sind nicht zahlreich.”
aus: Goethe, Maximen und Reflexionen. Aphorismen und Aufzeichnungen. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs hg. von Max Hecker, 1907. Aus dem Nachlaß. Über Literatur und Leben